Ein vergilbtes Foto, drei Menschen, mutmaßlich Eltern mit ihrem halbwüchsigen Sohn, im Hintergrund schneebedeckte Berge, dazu ein Titel, der die Wörter Koffer und Grenze enthält. Dieser erste Eindruck des Covers ruft Assoziationen von Flucht wach, suggeriert Irrwege und weckt Erwartungen. Öffnet man das Buch der britischen Autorin Frances Stonor Saunders dann, findet sich eine Zeichnung des weitverzweigten Stammbaums ihrer Herkunftsfamilie. Saunders will die Geschichte ihres an Alzheimer erkrankten und früh verstorbenen Vaters erforschen, zu dem sie ein distanziertes Verhältnis hatte, meint man.

Ein Koffer mit Dokumenten, Fotos und Briefen war Ausgangspunkt für Saunders’ Buch.
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Stattdessen setzt die Autorin mit einer ausgiebigen Nachzeichnung der ereignisreichen Historie Rumäniens ab dem Ersten Weltkrieg ein, schildert territoriale Verschiebungen, wechselnde Thronfolger, Affären, Kulturgeschichte, lässt den Altösterreicher Gregor von Rezzori zu Wort kommen, der in der Zwischenkriegszeit dort lebte, zitiert die Britin Olivia Manning, die sich von 1939 bis 1940 in Rumänien aufhielt und in ihrer Balkan-Trilogie ein lebendiges Panorama des Expat-Lebens zeichnete. Damals galt Bukarest als Paris des Ostens. Auch Frances Stonor Saunders’ Großeltern lebten zu dieser Zeit in Rumänien.

Europäisches Leben

Joe Slomnicki, jüdisch-russisch-polnischer Herkunft mit britischer Staatsbürgerschaft, war Geologe und arbeitete für die Erdölfirma Steaua Romana, heiratete die schweizerisch-rumänische Elena, die sich als Teil des Habsburgerreichs verstand und kulturell Österreich zugehörig fühlte. Czernowitz, wo Elena geboren worden war, nannte man damals auch Klein-Wien. Die Erdölvorkommen zogen Expats aller Länder nach Rumänien, wo sie ihr gewohntes "europäisches" Leben führten, weiterhin englisch, französisch, deutsch etc. sprachen, ihre Kinder ebenso erzogen und bis auf das Dienstpersonal kaum etwas mit den Rumänen zu tun hatten. In diese Atmosphäre wird Donald, der Vater der Autorin, hineingeboren.

Mit ausgiebigen Hintergrundinformationen versucht Saunders dem Schweigen des Vaters zu entgegnen, stellt sich vor, was er hätte wahrnehmen können. Die Autorin recherchiert die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Rumänien, rekonstruiert anhand eines Fotos die Vorgeschichte der polnischen Familie Slomnicki, deren Name sich vom Dorf Slomniki herleitet. Alle jüdischen Bewohner des Ortes wurden ins Vernichtungslager Belzec deportiert.

Für Nazis gearbeitet

Ferner findet sie heraus, dass ein Teil dieser Familie für die Nazis arbeitete, und ist damit konfrontiert, dass es sowohl Täter als auch Opfer in ihrem Stammbaum gab. So bringt ihre Erinnerungsarbeit zwar einiges an Antworten zutage, wirft aber vor allem Fragen auf. Der titelgebende Koffer des Vaters, der auf dem Dachboden seines Bruders lagert, könnte Informationen liefern, doch Saunders scheut sich, ihn zu öffnen, vergleicht das Behältnis mit einem Sarg, den sie nicht antasten will.

Lieber plaudert sie mit dem Onkel, widmet sich Donalds Briefmarkenalben, bezieht aus diesen zeitbezogenen Abbildungen Kenntnisse über die Veränderungen der Machtverhältnisse sowie die Entwicklungen während des Weltkriegs, sie kommentiert einige Fotos, aus denen sie die Lebensumstände des Vaters herauszulesen versucht, findet aber meist nur Beweise für ihr Nichtwissen: "Jedes bisschen Information, das ich finde, ist der Beleg für eine andere Information, die fehlt."

Irrwege

Die Irrwege des Vaters, verursacht durch schwierige Zeitumstände, wirken in dieser Suche nach. Der Krieg erreicht schließlich Rumänien. Erst gerät das Land in die Fänge der Nazis, dann übernehmen die Sowjets, die Erdölfirma wird verstaatlicht. Die Familie muss fliehen. Zuerst schaffen es Elena und die Kinder, sie geraten nach Kairo, später nach Südafrika, daraufhin nach England. Der Vater bleibt in Rumänien, wird angeklagt, muss einen Tag im Gefängnis verbringen, bis die Briten ihm zur Ausreise verhelfen. Die Familie kommt nie mehr zur Ruhe. Nach dem Krieg hoffen sie, wieder an ihr rumänisches Leben anknüpfen zu können, was nicht gelingt. Je tiefer die Autorin in die Prägungen des Vaters dringt, umso zerrissener wird seine Geschichte, und sie ist gezwungen, sich mit Leerstellen auseinanderzusetzen.

Lücken

Allmählich scheint sie es sogar vorzuziehen, ihre wenigen guten Erinnerungen an den Vater zu schützen, will lieber diesen vagen Eindruck von ihm bewahren, anstatt ihn durch neue Erkenntnisse zu zerstören. Warum aber nimmt sie dann ein derart aufwendiges Unternehmen auf sich? "Weil ich eine Geschichte brauchte, um meinem Gefühl des Verlusts Form zu verleihen", schreibt Saunders. In diesem Sinne könnte die Essenz ihres Forschens als ein Zur-Schau-Stellen von Lücken bezeichnet werden.

Dazu kommt die schmerzliche Erkenntnis, dass eineinhalb Millionen jüdische Menschen ohne jegliche Dokumentation getötet wurden, wie Saunders am Beispiel der deportierten Großtanten ihres Vaters begreift. Mit Schrecken stellt sie fest: "Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll ... Wie um alles in der Welt können wir die untoten Toten ehren?" Damit gelangt sie zum Kern ihres Buchs, das alles andere als eine geradlinig erzählte Familiengeschichte ist. (Sabine Scholl, 4.5.2024)

Frances Stonor Saunders,
Cover: Zsolnay